Während der Abwehrschlcht August 1918

Aus einem Feldpostbrief von Stabsarzt Dr. Zechlin

Unser Heeresbericht meldete kürzlich: „Nordwestlich von Roye schlug eine seit dem 9. August an Brennpunkten des Kampfes fechtende aus Garde- und niedersächsischen Reserve-Regimentern bestehende Division erneute starke Angriffe des Feinde ab. Im eigenen Vorstoß in die feindlichen Linien machte sie Gefangene.“ – Das ist meine 79. Res.-Division! Sie hat mit allen ihren Teilen recht herangemußt. Auch mein braves Res. inf. Regt. 263. Die Reihen unserer Kompanien waren recht gelichtet. Sie wurden verstärkt durch die Pioniere unserer Division. Auch ich selbst als Truppenarzt lag eingeschwärmt dazwischen und wir alle waren heilfroh, als wir für unseren Teil gestern Nacht zurückgezogen wurden.

Denn selbst für einen alten Krieger von Anno 14 war es „allerhand“, was einem da an neuen „Films“ geboten wurde. Das wurde uns bereits am ersten Tage klar, an dem wir bei hellem Tageslicht nördlich von Roye hereingeworfen werden mussten und unter Sicht der vielen Fesselballons nur immer zu zweien in ganz großen Abständen nach vorne kommen konnten. Jedes Dorf hier – weit über 10 – 12 km nach hinten – lag unter schwerstem feindlichen Flachfeuer, so daß wir uns nur vorsichtig über die Felder nach vorn bewegen konnten. Unser stilles Korps wurde noch schweigsamer, als es durch die feindliche Sperrfeuerzone ging, in der hübsch ein großer Trichter neben dem anderen zu sehen war. Und wenn gerade das Hindurchkommen nach vorn gut geht, so fragt sich doch jeder unwillkürlich: „Junge, Junge, siw sollst du da hindurch wieder zurückkommen?“

Dann kam der Aufenthalt in Schützenlinie, das heißt im schnell behelfsmäßig hergestellten Erdloch, das wenigstens gegen Gewehrgeschosse und einzelne Geschoßsplitter Deckung bieten sollte. Die Hitze begann unerträglich zu werden. –

Da geht der Feuerzauber wieder los! Schlagartig trommelt der Franzose plötzlich auf das alte Roye – jenes Roye, von dem ich 14 öfters schrieb – und auf unsere Linien. Das Feuer steigerte sich zur Raserei, wir alle sind in dichtesten Pulverdampf und Nebel gehüllt, überall ringsum ein schwerer Einschlag neben dem anderen. Die Erde zittert, stampft und bebt. Das Rollen wird zum Orkan. Ich beobachte angestrengt durch mein gutes Glas, ob „er“ etwa schon mit seinen Tanks vorankommt, doch es ist wegen des Pulverdampfes beinahe nichts mehr festzustellen. –

Plötzlich sehe ich, daß der Gegner, geschützt durch den Qualm und Nebel, einen Fesselballon ganz dicht an seine Linien herangebracht hat und daß er von dort aus nun den Einsatz jeder noch so kleinen Reserve, das Feuer jeder Batterie sehen können muss. Zahlreiche Flieger schützen das gewagte Unternehmen des Feindes. – Die Blinker können nicht arbeiten. Jeder Truppenteil, jede Kompagnie ist auf sich allein angewiesen.

Ich beobachte weiter das Verhalten des Feindes mit meinen Leuten und habe mich gerade entschlossen, an eine andere Stelle hin auszuweichen, da der Franzose nun augenscheinlich sein Sperrfeuer vorverlegt. Kaum Sind wir denn auch am neugewählten Ort, als er auf unsere alte Stelle hin die ganze Wut seines schwersten Sperrfeuers lenkt. Haushoch spritzt die braune Erde, haushoch bleibt eine dicke Staubwolke minutenlang in der Luft. Hier bei einem Gefechtsstand, dort bei einer Batterie, dort an einem Wegekreuz! – Ein übers andere Mal liegen wir da, klein und häßlich auf dem Bauche, um uns den herumsausenden Splittern, „Fledermäusen“ und Kreissägen“, die mit grauenvoller Musik meist ihre Nahen kurz vorher verkünden, etwas zu entziehen. Doch nur nicht laufen. Es hat keinen Zweck und gäbe dem angestrengt arbeitenden, bis in alle Adern hinein pochenden Herzen den Rest. –

Der Abend neigt sich allmählich herab. Etwa hundert taubenblaue französische Infanteristen schlängeln sich, obwohl gefangen, fast ohne Bedeckung mit hurtigen Schritten durch feuerärmere Zonen nach hinten. Meist ältere Kerls. Und was scheinen sie froh zu sein, nun endlich Ruhe zu haben. Sie sind bei uns angestürmt, an kleiner Stelle eingebrochen, aber sofort von rechts und links abgeschnürt worden. –

Es wird ruhiger. Wir buddeln uns an neuer Stelle ein. Gleich, ob Offizier oder Mann. Rock aus, Spaten her und einen „Sarg“ gegraben! Einer hübsch neben dem anderen mit 1/2 Meter Erdwand Zwischenraum. Ei, das geht schnell! „Ja, was man nicht alles für sein bißchen Leben tun muß“, meint schwitzend neben mir ein tüchtiger Pionier mit seinem breiten Ostpreußisch – und ich muß ihm beistimmen. Einer meiner „Schildknappen“ schneidet derweilen schon in dem uns umgebenden Weizenfeld einen Arm voll Halme mit dem Taschenmesser ab. Überall ist prachtvoller gelber Weizen daran. Wir decken sie auf unsere frischen Erdauswürfe und legen sie auch als Unterlage in unser Loch. Wenn in der Morgenfrühe die feindlichen Flieger dicht herunterkommen werden, um mit Falkenaugen nach Lebewesen zu spähen, sollen sie das wenigstens nicht gar zu schnell entdecken.

So liege ich denn in meinem „Erdsarg“, 1,70 Meter lang und 60 Zentimeter breit, und habe über mir den glänzenden Sternenhimmel. Kassiopeia leuchtet dort oben am Firmament, dort das Siebengestirn, hier der Gürtel des Orion.

Wie lange mag dieser Friede so dauern? Er ist verdächtig. Neben mir die Leute in den Löchern beginnen langsam sich etwas zu unterhalten. „Oh, Herrmann (so heißt mein bester Krankenträger, den ich meist bei mir habe), ich hab so`n furchtbaren Durst. Hast du nicht noch einen Schluck Wasser?“ – und der biedere Herrmann Müller aus Ostpreußen gibt dem Klagenden noch seinen letzten Rest aus der Flasche. – Da kommt von links her noch einer gekrochen: „Herrmann, bitte gib mir doch eene Zigarre für 3 Zigaretten, oh ich habe so`n Kohldampf!“ – Auch er erhält das Gewünschte. Der besagte Herrmann ist fast seit ihrem Bestehen bei der Truppe als Krankenträger und genießt bei ihr das größte Ansehen. Oftmals hat er auf seinen breiten ostpreußischen Schultern noch einen Verwundeten aus der ersten Linie, den im Angesicht des nachdrängenden Feindes keiner mehr holen wollte, zurückgetragen. Er ist etwas schwerhörig und trägt auf seinen Gesichtszügen jenes unbestimmte, etwas unsichere Lächeln, das Leute seines Leidens oft kennzeichnet. Seine Ohrmuscheln haben dabei förmlich einen fragenden Ausdruck. –

Dort sitzt einer im fahlen Mondlicht halb aufgerichtet in seinem Erdloch und hat vor sich, still und zufrieden, fast selig dreinblickend, ein feldbraunes, kaum noch als solches erkennbares Hemd. Er ist „Naturforscher“ und ist mit den Lieblingsplätzen jener kleinen Tierchen, welche durchaus nicht schlafen wollen, wenn er schlafen will, wohl vertraut. Tags über hat er mit seinen großen Feinden zu tun gehabt, jetzt muß er die kleinen mit dem Fingernagel kunstgerecht erlegen und sich immer noch plagen

Indes wird unsere Artillerie aller Kaliber wieder lebhaft, um etwaige Bereitstellungen des Feindes im Braquemont-Walde, dem Walde uns gegenüber, zu fassen und zu zerstreuen. Denn er wird sicher etwas vorhaben.

Doch er nimmt wohl auch dasselbe von uns an, umsomehr, als unsere Artillerie immer kräftiger dreinhaut. –

Plötzlich gehen beim Feinde grüne Leuchtkugeln mit Verästelung zum Himmel empor, das Zeichen wird nach hinten zur Artillerie weitergegeben – und schon ist es da – das Gefürchtete – das Sperrfeuer des Feindes! Im dichten „Vorhang“ senkt es sich nieder und haut hinein in unsere Reihen. Wie die Kaninchen liegen wir geduckt in den Löchern, umnebelt von Qualm, bespritzt von Dreck, die schauerliche Grabesmusik der großen und kleinen Splitter in den Ohren. Ein Splitter fällt auf meinen rechten Stiefel, kam von weit her und ist ohne Kraft. Schon schreien wieder Verwundete, jetzt, wo es unmöglich ist, sich auch nur etwas aus dem Graben zu erheben. Hier und da ruft es: „Herrmann“, „Herrmann!“ Keiner darf jetzt auf das Geschrei etwas geben, es wäre Wahnsinn. – Da erhebt es sich riesengroß im Loch neben mir und heraus taucht, den Stahlhelm tief in die Stirn gedrückt, einen Beutel mit Verbandstoffen an der Seite, der brave Herrmann Müller und stürzt sich hinein in das tosende Meer! Ich will ihm, dem Schwerhörigen noch zurufen: “ Mann bist du wahnsinnig? – So warte doch ab!“ – doch schon ist er fort. Er hört nichts mehr. –

Und als das Sperrfeuer abflaut, da wird es gewiss, was wir alle ahnten, und ein Mann rufts dem anderen zu: „Herrmann ist getroffen!“ –

Ich finde ihn neben einem großen Trichter liegen mit einem großen Loch im Rücken und mit Splittern in beiden Beinen. Ich kann nicht umhin, ich streichle ihm seine wetterharten Wangen und seine Stirn, wie eine Mutter ihr Kind. Ich gebe ihm Morphium, das seine zitternden Lippen gierig erhaschen. Kein Klagelaut dringt über seine Lippen. Schweigend erträgt er die Schmerzen, die ihm die Granate schlug, ihm, der selbst so vielen Helfer war. –

Wieviel stilles, deutsches Heldentum liegt in Frankreichs Erde ungekündet begraben! –

 

 

 

 

Erlebnisse während der Sommeschlacht 1916

Von Hans Thormann, ehemaliger Sanitäts-Vize-Feldwebel im I./2. Garde-Regiment zu Fuß

In der Nacht vom 13. zum 14.8.1916 kam das 2. Garde-Regiment zu Fuß in Templeux-la-Fosse nördlich Peronne an. Am 17.8.1916 abends rückte das I. Batl. in die Z-Stellung, ich befand mich als Sanitäts-Unteroffizier bei der 2. Kompanie. Mein Kompanie-Führer war Leutnant von Kühlwetter. Abends gegen 10.30 Uhr, nachdem wir uns erst kurze Zeit in der Z-Stellung befanden, trat mein Kompanie-Führer an mich heran und gab mir den Auftrag, mit zwei Krankenträgern der Kompanie und einer Gefechtsordonanz als Führer , mich zur vorderen Stellung zu begeben und von dort seinen Bruder, welcher als Kompanie-Führer der 7. Kompanie schwer verwundet war (Bauchschuss) zurückzuholen*. Ich nahm nun eine improvisierte Trag, bestehend aus einer Zeltplane und zwei starken Stöcken und machte mich mit den mir zugeteilten Leuten auf den Weg nach vorne. Wir vier Mann waren uns über die Situation vollständig im klaren, denn unser Weg führte durch heftiges feindliches Granatfeuer hindurch, jedoch waren wir vom Glück begünstigt und kamen nach einem beschwerlichen Weg durch Trichtergelände in der vorderen Stellung, welche inzwischen das F-Bataillon bezogen hatte, an. Nach längerem Suchen fanden wir Leutnant von Kühlwetter in einem zerschossenen Unterstand mit einem Bauchschuss vor. Da die Verwundung eine äußerst schwere war und sofort sachgemäße Behandlung nottat, machten wir unsere Trage zurecht, legten den Verwundeten darauf und marschierten ab zum Truppenverbandplatz in der Z-Stellung. Der Rückweg war aber mit unserer Last noch gefahrvoller als der Hinweg, denn wir konnten mit unserer Last nicht Deckung suchen, wenn feindliche Granaten in unserer Nähe einschlugen, jedoch gelangten wir unter Mühen und Gefahren zwischen 12 und 1 Uhr nachts auf unserem Truppenverbandplatz an, wo uns schon unser Kompanie-Führer und unser unermütlicher Batls.-Arzt Dr. Probst erwarteten. Der verwundete Leutnant von Kühlwetter wurde sofort von unserem Batls.-Arzt nochmals verbunden und gleich durch die San.Komp. in ein Feldlazarett gebracht, jedoch war die Verwundung zu schwer, denn schon nach einigen Tagen erhielten wir die Nachricht, dass der Verwundete im Feldlazarett gestorben sei. Am nächsten Tage wurden wir in unserer Z-Stellung von feindlicher Artillerie ohne Unterbrechung beschossen, neben mir erhielt ein Grenadier, welcher gerade beim Schaaufeln war, einen Kopfschuss durch Schrapnell; er starb in meinen Armen. Kurz danach sauste ein Blindgänger dicht neben uns in die Erde. Wir atmeten auf, als wir bei Dunkelheit in die vordere Stellung rückten, um das F-Batl. abzulösen. In der vorderen Stellung gab es für das Sanitätspersonal sehr viel zu tun, da der Franzmann mehrere Angriffe auf unsere Stellung machte; es gab hier ziemlich schwere Verwundungen, Abreißung von Gliedmaßen, schwere Bauch- und Kopfschüsse. Dank auch den tapferen Krankenträgern der San.Komp. 1, welche uns durch Fortschaffen unserer Verwundeten aus der vorderen Stellung wacker unterstützt haben. Jede Nacht kamen unsere tapferen Helfer von der San.Komp. 1 bis in die vordere Stellung und holten die schwerverwundeten Kameraden ab. Mehrere von dieser tapferen Schar sind während der Sommeschlacht im Zeichen des Roten Kreuzes den Heldentod gestorben. Als wir nach acht Tagen wieder nach Templeux-la-Fosse kamen, das San.-Personal mit Blut besudelt, begrüßte uns unser Divisions-Arzt, Oberstabsarzt Dr. Pröhl, und drückte jedem von uns die Hand. Am Weihnachts-Heiligenabend erhielt ich in Peronne, wo wir in Stellung lagen, meine Beförderung zum Sanitäts-Vize-Feldwebel als Anerkennung für meine während der Sommeschlacht bewiesene Tapferkeit. Ein schöneres Weihnachtsgeschenk konnte ich mir nicht wünschen.

 

* gemeint ist Leutnant Adalbert von Kühlwetter, der am 20.08.1916 an seinen Verletzungen verstarb und dessen Gebeine heute auf dem Soldatenfriedhof Maissemy, Block 2, Grab 565 ruhen.